5.

 

Eine lauwarme Nacht in Rom ist ein Genuß. Das hatte ich schon vorher geahnt. Daß sie jederzeit auch in eine handfeste Überraschung umschlagen konnte, dafür sorgte Antonio. Nachdem wir den Largo Argentina hinter uns gelassen und in einem selbstmörderischen Sprint zwischen den heranrasenden Autos den Corso Vittorio Emanuele II überquert hatten, tauchten wir endlich in die pulsierenden Herzkammern Roms ein. O ich mochte sie küssen, die vielen Gassen, deren Kopfsteinpflaster im Schein der Straßenlaternen golden glühte. Ich sah die an Triumphbögen erinnernden Eingänge zu den Palazzi, ja sogar zu ganz gewöhnlichen Häusern, sowohl Romantisches als auch Unheimliches im Innern versprechend. Ich bestaunte die barocken Kirchen an jeder Straßenecke, welche einst von mehr dem irdischen Glamour, denn der christlichen Askese zugeneigten Gottesmännern gestiftet worden waren und doch Gottes Glanz auf Erden nicht eindrucksvoller hätten repräsentieren können. Und schließlich das alte Häusermeer selbst: gelbe, ockerfarbene Fassaden mit dunkelgrünen Fensterläden, kleine Balkone auf jeder Etage, und überall Dachterrassen mit einem wahren Dschungel an Topfpflanzen. Wer unfähig war, es sich hier gutgehen zu lassen, der konnte sich mit meinem Segen getrost die Kugel geben.

Antonio hatte sich für das Ristorante Piperno in der Nähe der Tiberinsel am Monte de’ Cenci entschieden, wo es angeblich eine römische Küche gab, die mehr war als die übliche Hausmannskost. Obwohl ich mir inzwischen selbst wie ein Gourmet vorkam, der bei der Entscheidungsfindung für einen bestimmten Freßtempel an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gerät, erschien mir das Ganze gleichzeitig ziemlich lächerlich. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie wir in so eine Lokalität hineinmarschierten und erhobener Pfote den Oberkellner herbeiwinkten. In diesem Zusammenhang erspare ich mir den naheliegenden Witz mit dem »Katzentisch«.

»Lieber Antonio, deine Show als Lebemann ist ja wirklich unnachahmlich, aber kannst du mir vielleicht verraten, wie wir in einem Restaurant dinieren sollen? Ich befürchte, daß wir schon am Herunterdrücken der Türklinke scheitern werden.«

Wir streiften an kleinen noch geöffneten Lebensmittelläden entlang, von deren Decken die dicken Salamis und geräucherten Schinken wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle herunterhingen. Und erst die anderen Leckereien in der Auslage! Kein Wunder, daß dieses Volk neben Frankreich im Vergleich zum übrigen Europa das Dreifache für Fressalien ausgab. An stets mit kunstvollen Brunnen veredelten Piazze nahmen Leute vor gemütlichen Trattorien einen guten Schluck oder Bissen zu sich, ließen sich vom wohligen Dämmer aus den Fenstern der altehrwürdigen Häuser um sie herum bescheinen, und nicht selten streifte eine ausgestreckte Hand liebevoll unsere Rücken. Verglichen damit kam mir mein Zuhause wie eine sozialistische Wohnkaserne vor.

»Wer sagt denn, daß wir überhaupt irgendwelche Klinken benutzen müssen, Francis?« erwiderte Antonio mit einem maliziösen Lächeln. »Und wer sagt denn, daß wir wie gewöhnliche Ochsenköpfe den Vordereingang nehmen? Glaub mir, il mio amico, ein Restaurant ist wie ein gut gefüllter Bauch. Die Wahrheit darüber erfährst du aber nicht, indem du den Bauch besichtigst, sondern den Arsch!«

Endlich erreichten wir unser Ziel. Durch die Scheiben sah man Polsterstühle, umgeben von Silbergerät und feiner Täfelung aus der Vorkriegszeit. Leute im edlen Zwirn schoben sich allerlei Schmackhaftes in den Mund und prosteten einander zu. Kellner mit Zwirbelbärten und bis zu den Füßen reichenden weißen Schürzen wirbelten um ihre meist südländisch aussehenden Gäste. Kein Zweifel, dies hier war einer der besseren Läden.

»Folge mir«, sagte Antonio mit einem vielsagenden Augenaufschlag und verschwand in einer engen Seitengasse. Ich tat wie geheißen, und nach ein paar Metern befanden wir uns an der Rückseite des Restaurants, in einem kleinen düsteren Hof. Just in diesem Moment wurde die Küchentür von innen von einer Hilfskraft aufgerissen. Der Mann wuchtete einen deckellosen Abfallkübel zu den bereits zahlreich an der Mauer gruppierten Kübeln hinzu.

»Reste!« sagte Antonio, nachdem wir wieder allein waren. »Das Volk aß das, was die Kardinale übrigließen.

So ist die römische Küche entstanden, aus Resten.

Pagliata, coratella, trippa, lauter Innereien. Sie sind auch heute noch auf jeder Speisekarte einer römischen Trattoria zu finden. Eine Armeleuteküche ist sie jedoch trotzdem nicht, eher von reduzierter Gestalt, mit traditionellen Zutaten und ohne Verkünstelung.«

Er sah mir an, daß ich im Geiste die Stirn runzelte.

»Keine Sorge, das ist kein Müll, es ist so frisch, wie es frischer nicht sein kann. Die feinen Menschen, die hier tafeln, sind so übersättigt, daß sie die Hälfte der Kostbarkeiten auf ihren Tellern zurückgehen lassen. Also landet das gute Zeug im Abfalleimer. Das ist bei allen edlen Restaurants der Fall.«

Tja, wenn dem so war … Wir stürzen uns auf das Verschmähte wie Mitglieder eines Urzeitstammes auf ihre Feinde. Unsere Hinterpfoten katapultierten uns geradewegs auf die Müllkübel mit dem überbordenden Kalbsgekröse, den halb angegessenen und perfekt filetierten Fischen, den Lammeingeweiden, bestehend aus Herz, Bries, Milz und Lunge. Ein Seitenblick reichte, um bestätigt zu bekommen, daß Antonio die feinen Tischmanieren ebenso wie ich über Bord geworfen und seine Schnauze in eine Art Löffelbagger verwandelt hatte, mit dem er sich gnadenlos in die Früchte des Paradieses bohrte. Ich war nicht mit weniger Eifer dabei. Während aber meine Zunge die meisterlichen Kochkunststücke zu zelebrieren trachtete, wurde ich von meinem gierigen Magen unablässig genötigt, sie in einem Affentempo herunterzuschlingen. Ein Kampf, bei dem mir offengesagt vollkommen gleichgültig war, wer der Sieger blieb.

Kurzum, noch nie vorher hatte ich Leckerbissen in solchen Mengen in so kurzer Zeit in mich hineinbefördert.

Nach zirka einer Viertelstunde hatten unsere beiden Bäuche die Form von bis zum Zerbersten angespannten Blasebälgern angenommen. Satt und matt ließen wir uns neben den Abfallkübeln nieder, lutschten noch an dem einen oder anderen Knochen herum und ließen unsere Augen über den inzwischen sternenübersäten Nachthimmel schweifen. Vor uns erstreckte sich die finstere Gasse wie ein unendlicher Schlauch, an dessen Ende sich Hell-Dunkel-Muster in Gestalt vorbeiziehender Passanten abbildeten. Leise Gitarrenmusik mit Latino-Klängen vermischte sich mit dem Klirren der Gläser.

Antonio rülpste zufrieden. Und weil das exakt mein gegenwärtiges Befinden ausdrückte, rülpste ich zurück.

»Du hast mich vor dem Verhungern bewahrt, Antonio«, sagte ich. »Dafür gilt dir mein Dank ewiglich. Ich wundere mich nur, warum die Kollegen im Largo Argentina nicht nach der gleichen Methode verfahren und an den Hintereingängen der Edelrestaurants Schlange stehen.«

»Warum, warum – weil sie blöd sind! Obwohl sie in einer Metropole leben, in der das Wort ›Nahrungsmittel‹

angesichts des hohen Veredlungsgrades als Beleidigung gilt, besitzen sie keinen blassen Schimmer, wo die Schätze zu heben sind. Sie folgen ihrem konservativen Instinkt des territorialen Verharrens, bleiben in der Ruinenstätte und warten auf Almosen.«

»Was man ja von dir nicht behaupten kann.«

»Allerdings. Rom ist mein Garten der Lüste. Es gibt hier keine Ecke, in der ich mich nicht auskenne, kein Geheimnis, das mir verborgen bliebe, und keine einzige Delikatesse, die ich nicht schon gekostet hätte. Ich bin ein Wanderer und il cronista di Roma, ich bin der Marcello Mastroianni der Schnurrhaarigen. Ich bin Rom! Und dich Francis, du detektivischer Tourist, werde ich an die Pfote nehmen und in die süßen wie auch bitteren Aspekte meiner Geliebten einweihen.«

Das keilspitze schwarze Gesicht wirkte dabei euphorisch, und die grünen Augen strahlten, als steckten dahinter zwei Lampen, die mit mehr Stromleistung versorgt wurden als ihre Kapazität zuließ. Antonio schien in der Tat ein Glücksfall für mich zu sein, denn an einen besseren Führer hätte ich in diesem Moloch wohl kaum geraten können. Zumal ich mich unausgesprochen und aus reiner Selbstachtung dazu verpflichtet hatte, das Rätsel der Morde zu lüften, und dabei auf einen Kenner der römischen Interna angewiesen war.

Trotzdem glaubte ich, daß zwischen Antonios Lobgesang auf seine Stadt und den von mir vermuteten Umständen seiner Biographie ein trauriger Abgrund klaffte. War es doch eben diese Stadt gewesen, in der er das größte Trauma seines Lebens erlebt haben mußte.

Seiner gepflegten Ausdrucksweise und kultivierten Art nach zu urteilen, erschien es abwegig, daß er ein geborener Streuner war. Also hatte man ihn wie die anderen ausgesetzt. Welcher verrückte Mensch aber setzte einen so hübschen Kerl aus, dessen überragende Intelligenz obendrein nicht lange verborgen geblieben sein konnte? Und warum?

»Gut, gut, ich hab’s kapiert, Antonio«, sagte ich. »Du liebst Rom mehr als Kabelfernsehen. Aber ich werde den Verdacht nicht los, daß du in früheren Zeiten durchaus kein Wanderer und il cronista di Roma warst, sondern ein richtiges Heim besessen hast. Und dieses Heim gehörte einem dieser wunderbaren Römer. Stimmt’s?«

Prompt brach die Glücksfassade wie eine Theaterkulisse in sich zusammen. Der seidige Kopf knickte ein, die Augenlider sanken nieder und verengten sich zu schmalen Schlitzen, und die Schnauze wurde von einem leichten Zittern erfaßt. Da hatte ich wohl an eine immer noch schwärende Wunde gerührt.

»O ja, Francis, auch ich lebte früher bei einem Menschen«, sagte Antonio mit brüchiger Stimme, während er den Kopf von mir abwandte, damit ich sein desolat gewordenes Gesicht nicht sah. »Er war mein Signore, mein bester Freund, mein Vorbild. Er war ein echter Römer. Ich weiß noch, wie er sich immer für den Abend vor dem Spiegel zurechtmachte und mich nach meiner Meinung fragte – halb aus Witz, halb im Ernst –, ohne zu ahnen, daß ich ihn auch verstand.

Hochgekrempelte Hemdsärmel mit der Rolex am Handgelenk oder doch lieber geschlossen und Manschettenknöpfe? Die rote Brioni-Krawatte oder einfach oben zwei Hemdknöpfe offen? Dann probierte er ein paar schnittige Anzüge aus, stets mit mir scherzend wie mit einem alten Kumpel. Ich erinnere mich an den Duft seines Rasierwassers, herb und unaufdringlich. Nie werde ich die schönen Damen vergessen, die er von seinen nächtlichen Streifzügen mit nach Hause brachte. Eine jede von ihnen eine kleine römische Göttin. Und nie vergesse ich die Feste in der Mansardenwohnung, bei denen die Champagnerflaschen mit dem Messer geköpft wurden und ich der liebkoste Mittelpunkt war. Ich war der gute Geist des Hauses und das I-Tüpfelchen seines Lebens.«

»Klingt nach einem Entflohenen aus dem Naturschutzgebiet für vom Aussterben bedrohte Machos«, sagte ich etwas ungerührt. »Tut mir leid, Antonio, aber die Beschreibung deines einstigen Halters hört sich irgendwie nach einem von Ferrari konstruierten Jesus an. Wie es aussieht, hat er zwischen dem Binden von Brioni-Krawatten und dem Köpfen von Champagnerflaschen trotzdem noch die Zeit gefunden, dich vor die Tür zu setzen. Kannst du mir vielleicht verraten, warum?«

»Was für ein Prachtexemplar!« entfuhr es Antonio plötzlich.

Er riß den Kopf hoch, und ich folgte automatisch seinem Blick, der in der Ferne den Gassenausgang fixierte.

Obwohl die Dunkelheit die Sicht erschwerte, sahen wir, wie sich dort ein felines Paar miteinander vergnügte. Das schneeweiße Weibchen und ihr rotbrauner Liebhaber, eine Promenadenmischung mit ausnehmend muskulöser Figur, rieben sich zärtlich aneinander, gaben sich Nasenstüber und stießen abwechselnd Fauchsalven der Lust aus. Es war unschwer zu erraten, was in Kürze passieren würde.

Meine gute Erziehung erlaubte mir die Beobachtung nur mehr verschämt aus den Augenwinkeln; eigentlich wollte ich auf der Stelle aufspringen und mich davonstehlen.

Nicht so Antonio. Sein noch soeben von Melancholie gezeichnetes Gesicht wurde schlagartig von einer sich steigernden Welle der Faszination erfaßt. Die Augen quollen ihm geradezu über, und er starrte mit nervös schnalzender Zunge und unverhüllt lüstern auf das Treiben der Zwei.

»Was für ein Prachtexemplar!« wiederholte er, diesmal etwas leiser, und pfiff aus dem Maulwinkel.

»Ja, toller Körper«, stimmte ich ihm pflichtschuldigst zu.

»Aber wie es scheint, sind wir etwas zu spät gekommen.«

»Leider. Aber ein bißchen träumen wird ja noch erlaubt sein. Ein Roter fehlt nämlich noch in meiner Sammlung.«

»In meiner auch«, schwafelte ich unwahrheitsgemäß daher, da mir die peinliche Situation den Denkapparat lähmte. Dann fiel mir jedoch der Fehler auf, und ich vergewisserte mich, daß es sich bei dem Weibchen um eine weiße Artgenossin handelte. Zwangscharakter, der ich nun mal bin, konnte ich es mir natürlich nicht verkneifen, unser beider Fehler auch noch laut zu korrigieren.

»Ähm, du meinst wohl, eine Weiße fehlt noch in deiner Sammlung. Der Rote, das ist der Kerl, Antonio, das Mädchen ist weiß.«

»Du hast schon richtig gehört, Francis«, erwiderte Antonio kühl, ohne seine meditative Betrachtung zu unterbrechen. »Ein Roter fehlt noch in meiner Sammlung!«

Ich öffnete das Maul, um ihm zu widersprechen, merkte jedoch mit einem Mal, daß die Kiefer im weit geöffneten Zustand einrasteten wie die zwei Teile eines bis zum Anschlag aufgespannten Tellereisens. Für einen langen Moment schien in meinem Kopf ein leiser Wind zu wehen. Dann stürzten Gefühle der Ungläubigkeit, des Entsetzens, vor allem aber des Ekels übereinander her wie Leute, die in Panik aus einem brennenden Haus fliehen.

Antonio war kein Marcello Mastroianni, sondern eher ein Helmut Berger der Schnurrhaarigen.2 Ja konnte es denn wahr sein? Kannte ich etwas Vergleichbares aus meinem reichhaltigen Erfahrungsschatz? Hatte ich so etwas schon einmal im Discovery Channel gesehen?

Die Liebenden hatten inzwischen die Gasse verlassen und sich wieder auf die große erleuchtete Straße begeben.

Die Leere, die sie hinterlassen hatten, wirkte jetzt wie ein trostloser Ort, an dem etwas unwiederbringlich verloren gegangen war. Dem verhärteten Gesichtsausdruck zu urteilen sah mein »Partner« das genauso.

»Nun halt mal für eine sehr lange Weile die Luft an, Francis, bevor du etwas Unüberlegtes sagst.«

Antonio warf mir von der Seite einen etwas linkischen Blick zu.

Das tat ich doch glatt. Denn ich brauchte wahrlich eine Pause, um die unerwartete Wende zu verdauen. Ich verspürte beim Gedanken an die gleichgeschlechtliche Liebe unter uns »Männern« eine derart schlimme Übelkeit, daß mir nicht nur das eben verzehrte Essen hochkam, sondern meine ganze Rom-Schwärmerei gleich mit. Warum muß ich ausgerechnet an so einen geraten?

dachte ich. Und was finden die Typen an so etwas nur? In unseren modernen aufgeklärten Zeiten gehörte es zum guten Ton, bei diesem Thema eine sehr entspannte Geisteshaltung an den Tag zu legen. Man schien keinen Unterschied zu machen zwischen Schokoladenliebhabern und den Liebhabern dieser Spezialität. Aber nur schien! In Wahrheit versuchten alle heimlich ihren Abscheu soweit unter Kontrolle zu halten, daß sie gerade noch eine süßsaure Miene hinbekamen.

Und ich, der ich für meinen freien Geist allseits bekannt bin, wie brachte ich es fertig, daß meine Abneigung sich in Neutralität verwandelte? Da kam mir plötzlich eine sensationell feinsinnige Lösung in den Sinn: Schreiend weglaufen!

»Auch du Brutus?« sagte Antonio schließlich in Anspielung auf mein Wissen darüber, daß sich unter Caesars Mördern auch dessen engster Vertrauter und Freund Brutus befunden hatte. Dabei wirkte sein Gesicht nicht überheblich wie jemand, der sich auf der politisch korrekten Seite befindet, sondern tieftraurig.

»Also, ähm, ich glaube, ähm, du ziehst voreilige Schlüsse …«, wollte ich ansetzen.

»Du brauchst gar nicht weiterzusprechen, Francis! Oder sollte ich besser sagen weiterzulügen?«

»Okay, du Schlaumeier, du hast vollkommen recht: Ich bin kein Freund von solch engen Freundschaften. Ich gebe es unumwunden zu. Aber wenigstens weiß ich jetzt, weshalb man dich ausgesetzt hat.«

Auch wenn bei mir die Vorstellungskraft in Sachen Männerliebe streikte, so vermochte ich mir die daraus resultierenden Folgen durchaus auszumalen. Das Bild des kernigen Römers tauchte jetzt wieder vor mir auf. Der Mann vor dem Spiegel war nicht nur ein lächerlicher Macho. Hinter den schicken Anzügen und Accessoires verbargen sich Engstirnigkeit und betonharte Anschauungen über die einzig richtige Prägung der männlichen Sexualität. Daß der Kerl sich einen wahren Felidae-Adonis als Maskottchen hielt, gehörte zu seiner protzigen Selbstdarstellung von einem tollen Hengst. (Die Witze über Antonios von einem samtenen Flaum bedeckten Hoden auf diesen tollen Partys konnte ich mir lebhaft vorstellen.) Allerdings nur, solange sich das Maskottchen an seine Regeln hielt und spiegelbildlich zu ihm brav den Macho en miniature gab.

Während Signore sich also vor dem Spiegel teures Rasierwasser ins Gesicht geschüttet und Manschettenknöpfe ausprobiert hatte, hatte er nebenbei mit seinem »kleinen Mann« nicht nur gescherzt. Nein, er hatte ihn genau im Auge behalten, und wahrscheinlich war ihm wohl der Zigarillo aus dem Mund gefallen und hatte ihm ein Loch ins Hemd gebrannt, als er sah, an welchem Geschlecht Antonio auf der Terrasse gerade seinen Trieb auslebte. Das Ganze kam ihm nicht nur widerlich und obszön vor, sondern wie ein Verrat an ihrem vermeintlichen Männerbündnis. Mamma mia, mein Haustier ist schwul!, mochte wohl sein Entsetzensschrei gewesen sein. Und mit diesem Aufschrei hatte er die beiden »kleinen Männer« mitten in ihrem Spiel unzart auseinandergerissen, Antonio am Nacken gepackt und sich des haarigen Perversen mit einem Tritt entledigt. Seitdem war Antonio obdachlos. Komisch nur, daß mein süßer Romkenner gar nicht so aussah, als entbehre er ein Obdach.

Die Analyse dieses Psychodramas war ein Leichtes gewesen. Aber wie stand es mit dem Drama in meinem Kopf? War ich nicht in Wahrheit ein ebensolcher Macho wie der Mann vor dem Spiegel, der alles außerhalb seines sexuellen Horizontes für schmutziges Zeug hielt?

Verdammt, eigentlich hatte ich vorgehabt, die verborgenen Winkel dieser schönen Stadt zu erkunden, anstatt die Abgründe in meinem alten Schädel! Da kam es mir sehr gelegen, daß Antonio wieder das Wort ergriff.

»Na Francis, hättest wohl auch nicht gedacht, daß der erste Italiener, an den du gerätst, an der ›englischen Krankheit‹ leidet, was? Kein Wunder, wird doch die Welt immer mehr zu einem Dorf. Alles gleicht sich einander an, die Menschen, die Tiere, und nicht zu vergessen die überall verbreitete Intoleranz, von der jedermann infiziert zu sein scheint wie von einer bösartigen Krankheit.

Vielleicht lindert es deine Bauchschmerzen ein bißchen, wenn ich dir sage, daß ich mir das Ganze nicht ausgesucht habe. Ich bin so geboren. Und ich tue damit niemandem weh. Und – ich bin stolz darauf, daß ich so bin, wie ich bin!«

»Mit anderen Worten: Ich bin ein verklemmter alter Sack, der solche Typen wie dich am liebsten in Konzentrationslager stecken würde. Das glaubst du doch, oder?«

»Nein, aber dein unausgesprochener Ekel vor der Homosexualität ist Wasser auf die Mühlen derer, die für meine Sorte solche Lager bauen würden.«

»Quatsch, ich bin nur altmodisch. Und was die Intoleranz angeht, da faß dir erst mal an die eigene Nase.

jeder hat das Recht, selbst die beklopptesten Vorurteile zu hegen und zu pflegen, solange er damit nicht anderen auf die Pfoten tritt. Hat das nicht Kant gesagt? Oder ist das von Woody Allen? Natürlich gilt diese großmütige Rücksichtsnahme nicht für die leidige Sache mit den Mäusen, da sind wir uns ja wohl einig!«

In Antonios Keilgesicht erschien erneut das geschmeidige Lächeln, das den guten alten Dandy wieder zurückbrachte. Ich hatte das Gefühl, daß er mich richtig verstanden hatte. Das war sehr wichtig. Und zwar für uns beide. Enttäuschende Begegnungen mochte er wohl zur Genüge hinter sich haben. Aber bestimmt keine einzige, die aus ihm ein Kind von Traurigkeit gemacht hätte. Doch hier sah die Sache anders aus. Antonio mochte mich so sehr, daß es ihm das Herz gebrochen hätte, wenn unsere neuerblühte Freundschaft an seinem Bekenntnis in die Brüche gegangen wäre. Das galt auch für mich. Vermutete man nun aber das Naheliegende, so lag man völlig falsch.

Antonio hatte überhaupt kein sexuelles Interesse an mir.

Mal abgesehen von dieser heiklen Angelegenheit hatten wir einfach die gleiche Wellenlänge.

»Na schön, il mio amico, dann hege und pflege deine Vorurteile, während ich mir überlege, wie ich dich von ihnen erlösen kann. Es ist spät geworden, Francis. Wir sollten uns nach dem feinen Mahl auch eine adäquate Schlafstätte suchen.«

»Müssen wir nun am Hintereingang irgendeines Nobelhotels pennen, weil das Volk das früher hinter den Kirchen der Kardinale getan hat?«

»Aber, aber Francis, du befindest dich in Rom, du wirst noch in so vielen seidenen Betten schlafen, bis du dich wieder nach einer Übernachtung auf nassem Asphalt sehnst.«

»Der Spruch kommt mir irgendwie bekannt vor. Danach gab es Reste. Das mit den Seidenbetten klingt jedenfalls nicht übel, solange ich mir dafür nicht die Beine rasieren muß, hahaha!«

»Das würde allerdings unserer Gastgeberin fabelhaft stehen.«

»Gastgeberin? Verstößt es nicht gegen eure Ordensregeln, euch mit Weibern einzulassen?«

»O Francis, du mußt über uns noch viel lernen. Hat dir niemand erzählt, daß der beste Freund eines Schwulen die Frau ist?«

»Bisher nicht. Mittlerweile bin ich jedoch so müde, daß es mich nicht einmal mehr schocken würde, wenn ich erführe, daß der beste Freund des Papstes Marilyn Manson ist!«

Wir standen auf und schüttelten uns, damit das schwere Gewicht in unseren Bäuchen für die vor uns liegende Wanderung in die richtige Lage kam. Ich wollte schon den ersten Schritt tun, da schnitt mir Antonio jäh den Weg ab.

Er bohrte sich mit seinen strahlenden türkisgrünen Monden so tief in meine gewöhnlichen Augen, daß mir in meinem schachmatten Zustand ganz schummerig wurde.

»Persönliche Neigungen und Ansichten beiseite, Francis«, sagte er bedeutungsvoll. »Du kannst dich hundertprozentig auf mich verlassen. Wir zwei werden diese Bestie zur Strecke bringen, daran glaube ich felsenfest.«

»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es sogar«, erwiderte ich, löste mich vom Hypnoseherd seiner Augen und ging meinen Weg durch die Dunkelheit.

»Wie kannst du das wissen?« hörte ich seine Stimme hinter meinem Rücken.

»Statistik, Süßer«, sagte ich und zuckte mit den Schultern, ohne mich noch einmal umzudrehen.